Der islamisch begründete Extremismus ist bereits seit mehreren Jahrzehnten ein konstantes Phänomen in Deutschland. Dabei sind die Zulaufzahlen aber auch abhängig von politischen Ereignissen und haben beispielsweise nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 und den anschließenden Kriegen in Gaza und dem Libanon wieder zugenommen. Aber was meint dieser Begriff eigentlich genau?
Eine Vielzahl an Strömungen, Organisationen und Akteur*innen
Islamismus, Salafismus, Jihadismus, religiös begründeter Extremismus – in den letzten Jahren lassen sich auch aufgrund der zunehmenden Präventionsarbeit in diesem Bereich, mit der auf die Ausbreitung des „Islamischen Staats“ und dessen Rekrutierung unter jungen Europäer*innen reagiert wurde, verschiedene Begriffe finden, die allerdings jeweils unterschiedliche Phänomene bezeichnen. Islamismus sowie islamisch begründeter Extremismus können dabei als Containerbegriffe verstanden werden, wobei der Begriff Islamismus von vielen Muslim*innen abgelehnt wird. Zur Begriffsverwirrung trägt auch die Tatsache bei, dass zum einen unterschiedliche Ideologien angesprochen werden – etwa Wahabismus und Salafismus – die außerdem nicht notwendigerweise mit Terrorismus einhergehen. Als „politischer Islam“ wiederum wird – je nach Kontext – ein Überbegriff für verschiedene Strömungen der Kritik an einer westlichen Weltordnung in Form von Staaten und weltlicher Herrschaft verstanden; ebenso wird er aber häufig als Kampfbegriff gebraucht, um jegliche politischen Veränderungswünsche von Muslim*innen als gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet zu brandmarken. Zum anderen lässt sich eine Reihe von Begriffen finden – etwa die nach wir vor von Sicherheitsbehörden und Präventionslandschaft genutzte Unterteilung in quietistischen, legalistischen und jihadistischen Salafismus – die das Maß an politischer Gegnerschaft zu demokratischen Staaten und die Gewaltbereitschaft bestimmen soll.
Unter „islamisch begründeter Extremismus“ fallen also – auch im Verfassungsschutzbericht – eine Reihe sehr unterschiedlicher Organisationen und Akteur*innen. Dazu zählen etwa verschiedene Salafist*innen, die Hisbollah aus dem Libanon, die Hamas aus dem Gazastreifen, die transnational agierende Hizb ut-Tahrir, die Muslimbruderschaft, Al-Qaida sowie der sogenannte „Islamische Staat“ und seine diversen Ableger. Gemeinsam ist ihnen die Vorstellung eines einzigen, wahren Islam, von dessen Wiederbelebung und Reinhaltung sie sich auch einen politischen Machtzuwachs für die islamische Welt versprechen. Damit geht für sie auch die Ablehnung weltlicher, nicht islamisch legitimierter Herrschaft einher. Der Islam ist in dieser Vorstellung mehr als Spiritualität. Er soll nicht nur Regeln für die Ausgestaltung des Glaubens, sondern für das ganze Leben bieten. Dementsprechend werden säkulare Staatsvorstellungen abgelehnt. Das bedeutet konkret die Aufhebung der Trennung von Religion und (staatlicher) Gewalt. Das gesamte Leben wird durch die Gebote in Koran und Sunna geregelt, vom Familienleben bis zum Strafrecht.
Ablehnung säkulärer Nationalstaaten und demokratischer Verfassungen
Solche Überzeugungen bringen Vertreter*innen des islamisch begründeten Extremismus in Gegnerschaft zu demokratischen Staaten. Die meisten islamistischen Organisationen streben ein weltweites Kalifat an und positionieren sich damit gegen eine nationalstaatlich verfasste Welt. Dabei ist allerdings zu beobachten, dass diejenigen islamistischen Parteien, die in arabischen Staaten zu den Parlamentswahlen antreten (zum Beispiel die Ennahda-Partei in Tunesien und die Al-Nour-Partei in Ägypten), sowie die Organisationen, die de facto Macht in einem Staat oder einer Region ausüben (wie die Hisbollah im Libanon oder die Hamas im Gazastreifen) von der Idee eines Kalifats abrücken – und dafür nicht selten von anderen Islamisten kritisiert werden. In den meisten arabischen Staaten sind die einschlägigen islamistischen Organisationen (darunter Hizb ut-Tahrir, Al-Qaida, Muslimbruderschaft) ebenso wie in Europa verboten und werden vom Staat beobachtet.
Die verschiedenen theoretischen Strömungen und Unterströmungen des Islamismus befinden sich gleichzeitig in Opposition zu Vorstellungen des klassischen Islams. Das betrifft insbesondere die Praxis des islamischen Rechts. Entgegen landläufiger Vorstellungen in Europa stellt die Scharia tatsächlich kein festes Regelwerk dar, sondern bezeichnet vielmehr eine Praxis der Rechtsprechung, die sich aus verschiedenen Rechtsquellen speist und je nach Region und Rechtsschule unterschiedlich ausgelegt wird. Für die meisten islamistischen Gruppierungen stellt das jedoch bereits eine Anmaßung gegenüber Gottes Offenbarung dar. Zudem ist die Praxis des „Takfir“, also der Versuch, andere Muslim*innen zu Ungläubigen zu erklären, im Islamismus verbreitet. Daraus leiten sich auch Strategiedebatten darüber ab, ob zuerst der „innere“ (der eigene Staat oder rivalisierende islamische Gruppen) oder der „äußere Feind“ (USA, Westeuropa) zu bekämpfen sei.
Antifeminismus, Queerfeindlichkeit, Verschwörungserzählungen und Antisemitismus
Islamistische Organisationen sind also geprägt durch:
- Die Idee einer islamisch legitimierten und islamisch geprägten Herrschaft, womit die Abgrenzung von der Idee säkularer Nationalstaaten verbunden ist.
- Die Vorstellung eines wahren, reinen Islam, der zu seiner früheren Größe zurückfindet und für alle Menschen verbindlich ist. Das beinhaltet auch die Ablehnung von Diversität im Islam und seinen verschiedenen Ausprägungen.
Daraus ergeben sich zum einen Antifeminismus und Queerfeindlichkeit: Die Gleichberechtigung von Frauen und eine offen gelebte Beziehungs- und Geschlechteridentität werden im islamisch begründeten Extremismus als moralischer Verfall „des Westens“ begriffen. In unterschiedlichem Ausmaß sind außerdem Verschwörungserzählungen und Antisemitismus im Islamismus verbreitet: Ausgangspunkt dafür ist regelmäßig die Vorstellung eines Kampfes gegen „Kreuzzügler und Zionisten“, aber auch gegen eine jüdische beziehungsweise zionistische „Weltverschwörung“. Rassismus wiederum wird abgelehnt und das Kalifat als Gesellschaft imaginiert, in der Hautfarbe und Herkunft keine Rolle spielen. Insbesondere von islamistischen Akteur*innen in westlichen Gesellschaft wird Rassismus als zentrales Thema genutzt, um zu mobilisieren und Menschen für sich zu gewinnen. Tatsächlich macht diese Selbstdarstellung als antirassistisch den Islamismus für potenzielle Anhänger*innen attraktiv: Erfahrungen mit Alltagsrassismus sind ein wesentlicher Push-Faktor. Das ist umso alarmierender, als insbesondere der antimuslimische Rassismus in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen hat. Allerdings sind auch islamistische Gesellschaften meist ganz und gar nicht antirassistisch, wie beispielsweise verschiedene Berichte über den „Islamischen Staat“ nahelegen.
Stark verunsicherte Jugendliche sind besonders gefährdet
Zur Verbreitung ihrer Ideen und um Einfluss zu gewinnen, setzen verschiedene Akteur*innen, auch in Deutschland, vor allem auf Verbreitung und Werbung („Da`wa“, also Einladung genannt) und seltener auf Gewalt (etwa in Form von Terroranschlägen oder Anschlägen auf Einzelpersonen bzw. Institutionen). Verbreitung finden die Botschaften des islamisch begründeten Extremismus mittlerweile vor allem über diverse Social-Media-Kanäle auf YouTube, Instagram und TikTok, aber auch über den sogenannten Nashid-Rap sowie Games und Gaming-nahe Plattformen. Mit diesem Vorgehen sollen insbesondere Jugendliche erreicht werden, die immer wieder als wichtige Zielgruppe benannt werden. Dabei wird das Konzept „Jugend“ als eine Phase der Rebellion und des Ausprobierens allerdings oftmals als unislamisch abgelehnt.
Jugendliche sind somit eine wichtige Zielgruppe auch für die Präventionsarbeit. Die Hinwendungsgründe sind dabei so verschieden wie die Jugendlichen selbst. Zudem gilt es, genderspezifische Hinwendungsfaktoren zu beachten. Besonders gefährdet sind allerdings nicht etwa (streng) religiöse Jugendliche, sondern stark verunsicherte Jugendliche, die auf der Suche nach Halt, Zugehörigkeit und einem Lebenssinn sind.
Cultures Interactive hat sich in verschiedenen Projekten insbesondere mit genderspezifischen Hinwendungsfaktoren – vor allem in Hinblick auf Mädchen und junge Frauen – sowie der Nutzung von jugendkulturellen Plattformen, Ausdrucksweisen und Symbolen durch den islamisch begründeten Extremismus auseinandergesetzt. In unterschiedlichen Projekten wurden mädchenspezifische Präventionsangebote für diesen Phänomenbereich entwickelt und mit einer phänomenübergreifenden Perspektive gearbeitet.
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