Die „Versicherheitlichung“ der Zivilgesellschaft in Europa

Als die Europäische Kommission über ihre oberste Sicherheitsbehörde, die GD Migration und Inneres am zehnten Jahrestag des 11. Septembers 2011 das Radicalisation Awareness Network ins Leben rief, sollten bald viele Fragen und Kontroversen auftauchen. Schließlich musste die Frage aufgeworfen werden: Welche Art von Zivilgesellschaft strebt Europa an? Wie soll der gesamtgesellschaftliche Ansatz zur Wahrung und Stärkung von Demokratie tatsächlich umgesetzt werden? Wie können wir verhindern, dass unabhängige europäische Zivilgesellschaften „versicherheitlicht“ werden und letztlich untergehen –  während sich die EU-Länder unter dem Deckmantel der „Prävention“ in postmoderne Formen von sicherheitsbehördliche Präventions-Staaten verwandeln – und eine ambivalente Rhetorik der „Zusammenarbeit auf Augenhöhe“ mit den Akteur*innen der Zivilgesellschaft vorherrscht.

Schon der Eröffnungsbeitrag unten auf dieser Seite warf 2018 zentrale Fragen auf, als er einige Erfahrungen aus der Mitwirkung am Aufbau des RAN wieder aufgriff. Denn schon bald wurde ein verblüffender Mangel an Transparenz und auch das Fehlen jeglicher Evaluierung des RAN deutlich, ebenso wie ungehörte Beschwerden von ehrenamtlichen RAN-Praktiker*innen und die zunehmend sichtbaren Mechanismen, die ein Bottom-up-Praktikernetzwerk vortäuschen, aber strikt top-down funktionieren – und damit die „Versicherheitlichung“ und „Industrialisierung“ der Prävention in Europa vorantreiben. Seitdem sind eine Reihe weiterer Themen aufgetaucht, die beispielsweise einen „zusätzlichen EU-Schaden“ vor allem in Mittel- und Osteuropa verursachten oder unsere wichtigsten Interessen verletzten.

Sieben Gründe, warum die „gemeinsamen Fallkonferenzen“ nicht mehr stattfinden sollten

Die derzeit praktizierten "gemeinsamen Fallkonferenzen", in denen Deradikalisierungsfachkräfte aus zivilgesellschaftlichen Organisationen regelmäßig Informationen über ihre Klient*innen mit staatlichen Sicherheits- und Nachrichtendiensten zum Zwecke der Klient*innenbeurteilung austauschen, sollten eingestellt und abgeschafft werden.

Denn diese "gemeinsamen Fallkonferenzen" (i) verletzen die unveräußerlichen Persönlichkeitsrechte der Klient*innen und ihres sozialen Umfelds, (ii) gefährden die Vertraulichkeit der Beratungsprozesse und beeinträchtigen damit die Qualität, (iii) schwächen die öffentliche Glaubwürdigkeit und den Ruf der Ausstiegs-/Rehabilitationsarbeit als vertraulich und zeitgemäß, (iv) untergraben das wesentliche demokratische Gut der Gewaltenteilung und der Aufgabenteilung, (v) überzeugen nicht durch das Versprechen, angesichts der sog. "Gefährder"/Hochrisikoklient*innen einen signifikanten Mehrwert für die öffentliche Sicherheit zu erbringen, (vi) gehen implizit davon aus, dass sog. "Gefährder" Teile ihrer Persönlichkeitsrechte verwirkt haben, z. B. ihr Datenschutzrecht, das sie nicht mehr wahrnehmen können (vii) und beruhen auf nicht ausreichend dokumentierten Exklusivbeziehungen zwischen staatlichen Stellen und ausgewählten zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, bei denen es zu wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Interessenkollisionen kommen kann.

Die Europäische Kommission und das Radicalisation Awareness Network, die derzeit in ihren Veröffentlichungen zur Ausstiegsarbeit diese "gemeinsamen Fallkonferenzen" zu propagieren und zu unterstützen scheinen, sollten diese Politik überdenken und einstellen.

Sieben Gründe, warum die „gemeinsamen Fallkonferenzen“ nicht mehr stattfinden sollten

Dr. Harald Weilnböck

Sollten sich europäische NGOs aus der „Collection of Practices“ des Radicalisation Awareness Network zurückziehen?

Die Generaldirektion Inneres der Europäischen Kommission führt derzeit eine ungerechtfertigte Auswahlmaßnahme unter den europäischen NGOs/Ansätzen der Präventionsarbeit durch, die vom Radicalisation Awareness Network (RAN) durchgeführt wird –  ohne klares Mandat und ohne klares Einverständnis der europäischen RAN-NGOs und mit wenig bis gar keiner Transparenz über das Verfahren und die Kriterien der Bewertung. Gleichzeitig kündigt die Bundesregierung an, ein dem Innenministerium unterstelltes „Bundesinstitut für Qualitätssicherung“ einzurichten, während die ersten Praktiker*innen des Präventionsprogramms „Demokratie leben!“ seit Jahren daran arbeiten, einen unabhängigen und zivilgesellschaftlichen Modus der Qualitätsentwicklung und -bewertung vorzubereiten.

Weitere Symptome deuten auf eine unglückliche politische Entwicklung hin, die die Widerstandsfähigkeit, das Vertrauen und die Zusammenarbeit in Demokratien in ganz Europa gefährdet; z.B. das RAN-Rehabilitationshandbuch, das einen „Informationsaustausch“ über die Klient*innen der Ausstiegsarbeit vorschreibt, oder ein EU-Finanzierungsaufruf der GD Inneres, der das Misstrauen gegenüber NGOs und der Zivilgesellschaft schürt –  und uns damit in Richtung osteuropäischer Verwaltungsgepflogenheiten verschiebt.

Glücklicherweise gibt es einen Silberstreif der Hoffnung, der die Option einer wirklich zivilgesellschaftlichen Architektur der Präventionsarbeit und des Qualitätsmanagements aufzeigt, die den Standards rechtsstaatlicher Demokratien gerecht wird. Hier organisieren unabhängige NGOs ihre Arbeit und ihr Qualitätsmanagement selbst, zusammen mit ebenso unabhängiger akademischer Expertise, mit dem Ziel des systematischen Aufbaus eines Verbands oder einer Berufskammer mit soliden methodischen und ethischen Standards. Ein grundlegender Konstruktionsfehler des Aufbaus der europäischen PVE-Arbeit durch die Generaldirektion Inneres, die notorische „Versicherheitlichung“, muss jedoch korrigiert werden, die Pläne für ein „Bundesinstitut für Qualitätskontrolle“ in Deutschland entsprechend gestrichen werden. So wird die berüchtigte „P/CVE“-Verquickung (Preventing/Countering Violent Extremism) endlich ausreichend differenziert und damit wichtige demokratische Kompetenz- und Funktionsteilungen eingehalten. Dies wird Europa in die Lage versetzen, ein Paradebeispiel für „best practice in policy making“ im globalen Maßstab zu werden.

Should European NGOs withdraw from the EU Radicalisation Awareness Network’s ‘Collection of Practices' – and what does the planned German „Federal Agency of Quality Control“ mean anyway?

Dr. Harald Weilnböck

In Zeiten von Fake News – wie ergeht es kritischen Nachrichten?

Heute möchte ich einige Beobachtungen darüber teilen, welche Rückmeldungen es zu meinem Aufsatz über das RAN bisher gab. Seit September letzten Jahres, als ich die mir bekannten PVE-Netzwerke und -Organisationen gebeten hatte, den Link zu meinem Aufsatz weiterzuleiten und so die Diskussion über ihre Mailinglisten und Newsletter zu fördern, habe ich festgestellt: Fast keines meiner Netzwerke und Organisationen hat den Link weitergeleitet. Tatsächlich hat fast keiner von ihnen auf meine E-Mails geantwortet. Ich hatte etwa 20 Netzwerke/Organisationen angeschrieben, mit denen ich seit mehreren Jahren in vielfältiger Weise zusammenarbeite. Nur zwei haben freundlicherweise geantwortet und den Link weitergegeben, bis jetzt. Auch die rund 800 Personen, die sich die Zeit genommen haben, den Aufsatz zu lesen, haben sich nicht geäußert - zumindest nicht offiziell und schriftlich. Die Konsortien, die sich um die bevorstehende Ausschreibung von RAN_3 bemühen und sich an mich gewandt hatten, scheinen nach Erscheinen des Aufsatzes nicht mehr interessiert zu sein.

Ich habe eine Weile darüber nachgedacht und bin schließlich zu dem Schluss gekommen: Ich kann all diejenigen, die den Link nicht geteilt und nicht kommentiert haben, sehr gut verstehen. Wahrscheinlich hätte ich an ihrer Stelle dasselbe getan; manchmal habe ich ihnen sogar empfohlen, nicht zu kommentieren. Somit fühle ich mich von keinem von ihnen persönlich enttäuscht! Es scheint nämlich gute Gründe zu geben, eine solche kritische Debatte im derzeitigen Bereich der Präventionsarbeit nicht zu unterstützen oder sich daran zu beteiligen. Auch das RAN selbst hat bisher nicht die Absicht gezeigt, auf meinen Input zu reagieren und mit ihm zu arbeiten. Zumindest habe ich persönlich noch nichts gehört. Auch im Lenkungsausschuss scheint es keine Diskussion gegeben zu haben.

Allerdings handelte es sich bei den beiden Organisationen, die ihre Unterstützung anboten, um große staatliche/staatsnahe Organisationen, die somit als mächtig angesehen werden können. Es gibt also keine Verschwörung der Mächtigen gegen „kritische Nachrichten“. Im Gegenteil, bei dieser ganzen Angelegenheit scheint es nur darum zu gehen, wie wir alle im PVE-Bereich und darüber hinaus einfach unseren Geschäften nachgehen und Arbeitgeberverantwortung tragen. Daher ist alles, was ich im Moment dazu tun kann: die Leute wissen lassen, wie meine Erfahrungen in dieser Sache sind. Meine Organisation und ich werden auch in Zukunft mit all diesen Netzwerken und dem RAN zusammenarbeiten, so wie wir es jetzt schon tun.

Umso mehr möchte ich meine Neujahrswünsche an Sie alle richten. Mögen unsere wichtige Arbeit und der RAN im Jahr 2019 und in den Folgejahren immer anspruchsvoller und nachhaltiger werden. Unsere Sache ist es allemal wert: Europäische demokratische und liberale Gesellschaften in Zeiten von gewalttätigem Extremismus – und Fake News.

In times of fake news – how do ‘critical news’ fare?

Observations about the RAN essay’s distribution paths

Dr. Harald Weilnböck

Das Radicalisation Awareness Network (RAN) – Idee und Wirklichkeit

Als Harald gebeten wurde, eine "Beschreibung und kritische Bewertung des RAN" für einen großen Online-Info-Dienst zu schreiben, wurde ihm klar, dass er nur einen unabhängigen Essay schreiben konnte, der einige seiner persönlichen Erfahrungen, Beobachtungen und Überlegung und sowie die seiner Praxis-Kolleg*innen aufgreift, um dadurch zur Weiterentwicklung des RAN beizutragen – wo er von 2011-2015 als Mitglied der Lenkungsgruppe und Co-Leiter einer Arbeitsgruppe tätig war und seither regelmäßig mitarbeitet.

Die Beobachtungen und Themen reichen von der Sichtweise des RAN als "die beste Sache ihrer Art", dem Konzept eines Netzwerks von First-Line-Praktiker*innen, dem Abdriften des RAN von seiner ursprünglichen Mission, der überraschenden Abwesenheit von Evaluation, der ungehörten Kritik von teilnehmenden Praktiker*innen, der Simulierung eines Bottom-Up bei gleichzeitigem Top-Down Mechanismus, den Dynamiken des "it-briefs-wellism" in der Programmgestaltung, der Industrialisierung von Extremismusprävention, von professionellen "NGO-Kapitalisten", über einige mutmaßliche Fälle von "EU added damage"durch RAN, z.B. die "counter narrative" Strategien, die Rekrutierung von jungen Leuten in das RAN und der unausgewogene Islamismus-Schwerpunkt; sowie über einen angeblichen "Staatsstreich" durch die Ministerien der EU-Mitgliedstaaten.

Der Aufsatz unterstreicht schließlich die Notwendigkeit, von neuem zu beginnen, umzustrukturieren und einen behörden- und akteursübergreifenden europäischen Rahmen auf Augenhöhe aufzubauen, um gegen die gesamte Bandbreite von Phänomenen vorzubeugen, die eine Gefahr für Demokratie und Menschenrechte darstellen – und dabei eine aktive und unabhängige Zivilgesellschaft unterstützen.

Das Radicalisation Awareness Network (RAN) – Idee und Wirklichkeit.

Ein Essay zur akteursübergreifenden Zusammenarbeit in der Prävention von gewaltorientiertem Extremismus und zur Unterstützung von Resilienz in den europäischen Gesellschaften.

Dr. Harald Weilnböck