Jugendliche würden den Begriff „Jugendkultur“ wohl eher nicht benutzen. Fraglich ist auch, ob sie sich heute noch einer bestimmten Jugendkultur zuordnen würden, wie es etwa in den 1990er Jahren üblich war. Trotzdem gibt es nach wie vor „typisch jugendliche“ Szenen und Beschäftigungen, von denen sich die meisten Jugendlichen mehr angesprochen fühlen als von einem Besuch im Museum oder klassischer Literatur. Dazu zählen beispielsweise Rap, Graffiti, Skateboarding und Gaming oder Plattformen wie TikTok, Instagram und YouTube.
Jugendkulturen ermöglichen alternative Lebens- und Gesellschaftskonzepte
Die Begeisterung von Jugendlichen für jugendkulturelle Szenen und Ausdrucksformen liegt oft in den emanzipatorischen Aspekten von Jugendkulturen begründet. Diese erlauben es jungen Menschen, sich neu zu erfinden und nach alternativen Lebens- und Gesellschaftskonzepten zu suchen. Damit bilden sie einen Gegenentwurf zur Welt der Erwachsenen und grenzen sich stilistisch und kulturell, aber auch im Hinblick auf Werte von den älteren Generationen ab. Jugendkulturen haben deshalb immer auch einen politischen Gehalt und sind politisch umkämpft. Die thematischen Schwerpunkte sind dabei je nach Jugendkultur verschieden und fallen im internationalen wie im historischen Vergleich unterschiedlich aus. HipHop ist zum Beispiel eine Subkultur, die seit ihrer Entstehung regelmäßig Rassismus thematisiert. Doch während der Fokus in den USA auf Polizeigewalt, Ghettoisierung und strukturellem Rassismus im Justizsystem liegt, geht es der HipHop-Community in Deutschland mehr um antimuslimischen Rassismus. Graffiti wiederum stellt für viele Jugendliche in Deutschland heute ein legal ausgeübtes Hobby dar. Für die ersten Sprayer*innen der DDR und später der ostdeutschen Bundesländer bedeutete Graffiti dagegen die selbstbestimmte Aneignung des öffentlichen Raumes. Anders sieht es in Libyen, Ägypten und Syrien aus: Hier war Graffiti ab 2011 ein wesentlicher Bestandteil der Protestkultur. Solche emanzipatorischen Potentiale von Jugendkulturen können und sollten pädagogisch genutzt werden. Cultures Interactive e.V. greift dies im Jugendkulturansatz auf.
Neues ausprobieren und neue Fähigkeiten erlernen
Die Jugendkulturarbeit entstand in den 1980er Jahren in der offenen Jugendarbeit. Damals sahen sich Jugendclubs vor allem in den Städten zunehmend mit Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen konfrontiert, die sich von klassischen Freizeitangeboten nicht mehr angesprochen fühlten. In der Folge fanden jugendkulturelle Interessen und Subkulturen verstärkt Beachtung. Seitdem hat sich die Jugendkulturarbeit in verschiedenen pädagogischen Kontexten zusehends etabliert und immer weiter aufgefächert. In der politischen und historischen Bildung beziehungsweise der Demokratieförderung ist der Jugendkulturansatz jedoch noch recht selten anzutreffen.
Cultures Interactive e.V. nutzt den Jugendkulturansatz bereits seit seiner Gründung im Jahr 2005. Dabei verbindet der Verein eine menschenrechtsorientierte politische Bildung mit der Auseinandersetzung mit Jugendkulturen. Das umfasst sowohl die Beschäftigung mit der (Entstehungs)Geschichte von Jugendkulturen als auch ihre praktische Umsetzung. Die Themen, die über Jugendkulturen verhandelt werden, stellen dabei ein Sprungbrett in die politische Bildung und zur Auseinandersetzung mit Ideologien der Ungleichwertigkeit dar ‒ beispielsweise im Hinblick auf islamisch begründeten Extremismus, Verschwörungsideologien und Sexismus im Rap, Rechtsextreme in der Hooligan- oder Gaming-Szene, Depression und Mobbing in YouTube-Videos oder die Anliegen von „Fridays for Future“. Dabei erleichtert der jugendkulturelle Zugang Jugendlichen den Einstieg in gesellschaftspolitische Diskussionen, ohne dadurch oberflächlich zu werden. Das hat den Vorteil, dass sich Jugendliche von Anfang an mit ihren Interessen wahr- und ernstgenommen fühlen. Denn die politische Diskussion setzt direkt bei den Themen und Erfahrungen an, die sie bewegen. Das gibt ihnen auch die Möglichkeit, als Expert*innen aufzutreten, die über aktuelle Diskurse beispielsweise in der Rap-Szene bestens Bescheid wissen. Das gilt auch für Jugendliche, die Mühe mit dem Lesen oder Schreiben haben oder noch nicht so sicher in der deutschen Sprache sind. Dazu kommt, dass viele Jugendkulturen international vertreten sind und sich zum Teil auch als internationale Community verstehen. Dieser Aspekt von Jugendkulturen ist meist besonders für Jugendliche attraktiv, die selbst familiäre Beziehungen ins Ausland haben.
Das praktische Erlernen einzelner jugendkultureller Ausdrucksformen ist in den Workshops von Cultures Interactive e.V. zentral. Jugendliche können sich dort beispielsweise im Rappen, Tanzen, Graffiti, Parkour oder der Produktion von Social-Media-Content versuchen. So können sie Neues ausprobieren, neue Fähigkeiten erlernen und sich in der Zusammenarbeit mit anderen üben. Sie machen die Erfahrung, dass sie selbst kreativ, kulturell und politisch aktiv werden können. Das befördert solidarisches Handeln und zivilgesellschaftliche Teilhabe sowie die Übernahme von Verantwortung.
Nach wie vor sind Jugendkulturen häufig von Jungs und Männern dominiert. Das zu reflektieren und in der Auswahl von Methoden und Teamer*innen zu beachten, ist eine wichtige Voraussetzung für eine gelungene Jugendkulturarbeit. Dann lassen sich beispielsweise bewusst mädchen-empowernde HipHop-Workshops gestalten, anhand von feministischen Jugendkulturen stereotype Geschlechterrollen thematisieren oder Jugendlichen neue Erfahrungen ermöglichen, wenn die Workshops zu Skateboarding und Heavy Metal von Teamerinnen geleitet werden.
Jugendkulturen in der Prävention von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit
Mit ihren vielfältigen Identitätsangeboten und Möglichkeiten, sich auszuprobieren, stellen Jugendkulturen grundsätzlich einen Gegenentwurf zu Ideologien wie denen der extremen Rechten oder des islamisch begründeten Extremismus dar. In der Rechtsextremismusprävention hat sich zudem gezeigt, dass gerade rechtsaffine Jugendliche einer möglichen pädagogischen Einflussnahme extrem misstrauisch gegenüberstehen. Sie empfinden politische Institutionen und ihre Akteur*innen häufig als langweilig, nicht zeitgemäß und nicht ansprechend. Auch deshalb sind sie für klassische Präventionsangebote oder Angebote der politischen Bildung schlechter erreichbar. Solche Jugendliche, die durch andere pädagogische – und erst recht politisch-bildnerische Formate nicht oder nur sehr schwer angesprochen werden können, können nur durch eine lebensweltorientierte, an den Interessen von Jugendlichen angelehnte pädagogische Haltung erreicht werden.
Jugendkulturen in der Prävention von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Hinwendungsprozessen zu antidemokratischen Bewegungen zu nutzen, bietet sich aber auch deshalb an, weil dort ebenfalls Kämpfe um jugendliche Anhänger*innen stattfinden. Denn Akteur*innen der extremen Rechten und des islamisch begründeten Extremismus ebenso wie Verschwörungsideolog*innen nutzen immer wieder Jugendkulturen, um an Jugendliche heranzukommen. Diese Aneignung und Unterwanderung lässt sich für Jugendliche anhand konkreter Jugendkulturen darstellen, ebenso wie erfolgreiche Abwehrkämpfe und Gegenbewegungen in den Subkulturen.
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