Fragen rund um Gender und Rollenvorstellungen, um Sexualität und sexuelle Orientierung sind zentrale Themen im Jugendalter. Das zeigt sich regelmäßig auf Schulprojekttagen, in Jugendkulturworkshops und in Gesprächsgruppen mit Jugendlichen. Immer wieder kommen sie dort auf das eigene Rollenverständnis zu sprechen, auf Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit oder auf Fragen rund um Sexualität und Partner*innenschaft. Dabei wird deutlich, dass junge Menschen oft große Widersprüche zwischen dem gesellschaftlichen Anspruch von Gleichstellung und Gleichberechtigung und ihrer eigenen Lebenswelt erleben.
Gender als Hinwendungsfaktor
Auch wenn Radikalisierungsgründe vielfältig sind, können Vorstellungen über Genderrollen bei der Hinwendung zum Rechtsextremismus oder zum islamisch begründeten Extremismus eine prominente Rolle spielen. Denn für beide Phänomenbereiche sind rigide Geschlechter- und Sexualitätsnormen zentral: Im Rechtsextremismus wie im religiös begründeten Extremismus stellen einengende, biologistische Rollenvorstellungen über Frauen und Männer ebenso wie Sexismus und Queerfeindlichkeit ein ideologisches Grundelement dar. Solche rigiden Vorstellungen können für Jugendliche attraktiv sein. Denn ihnen wird dadurch suggeriert, dass sie im jeweiligen Extremismus eine wichtige, geschlechtsspezifische Rolle einnehmen könnten. So kann Rechtsextremismus für Jungen und Männer gerade deshalb anziehend sein, weil er sie in ihrem Mann-Sein aufwertet und ihnen ein martialisches, traditionelles Frauenbild bietet. Mädchen und Frauen dagegen finden im Rechtsextremismus eine idealisierte Form von Weiblichkeit, die eine Aufwertung der traditionell-weiblichen Geschlechterrolle beinhaltet. Diese eindeutigen Rollenangebote können auf Jugendliche entlastend wirken: Anforderungen an Frauen und Männer sind klar benannt, Ambivalenzen und Unterschiede müssen nicht ausgehalten oder verhandelt werden. Doppelbelastungen, wie zum Beispiel den Ansprüchen von Familie und Karriere gleichermaßen gerecht zu werden, scheinen von vorneherein ausgeschlossen. Auch ansonsten häufig sanktionierte oder abgewertete Genderperformances („anhängliche Frau“ – „aggressiver Mann“) erfahren eine Aufwertung. Dazu kommt, dass islamisch begründeter Extremismus und Rechtsextremismus bewusst Widersprüche zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen und Wirklichkeit aufgreifen, um Ansätze der Gleichstellung zu diffamieren und eigene „Lösungen“ anzubieten.
Starre Vorstellungen von Gender und sexueller Orientierung hinterfragen
Umso wichtiger, dass Gendervorstellungen auch in der Prävention sowie in der Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit thematisiert werden: Mit welchen Geschlechtervorstellungen wachsen Jugendliche auf? Gelten für sie vielfältige und durchlässige Vorstellungen von Männlichkeit, Weiblichkeit oder Queerness? Oder sind sie in Familie und sozialem Umfeld eher damit konfrontiert, sich als Mädchen oder Junge in einer bestimmten Weise verhalten zu müssen? Inwiefern tragen die persönlichen Erwartungen an sie als junge Frauen und Männer vielleicht sogar dazu bei, sich streng binäre Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit anzueignen? Bestehen Räume, in denen Jugendliche die Herausforderungen, Vor- und Nachteile der verschiedenen Genderentwürfe in der Gesellschaft angstfrei besprechen und diskutieren können?
Genderreflektierende Präventionsansätze hinterfragen starre binäre Geschlechterrollen und vermitteln den Heranwachsenden ein Verständnis für die Vielfältigkeit von Menschen mit unterschiedlichen geschlechtlichen und sexuellen Identitäten. So werden die Vorstellungen der Jugendlichen von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie diesbezüglichen Geschlechterrollen in den Blick genommen, der Umgang mit Homo- und Bisexualität thematisiert, sich mit Inter- und Transsexualität sowie mit geschlechtlichen Selbstverortungen wie non-binär oder queer auseinandergesetzt. Darüber können Prozesse der Selbstreflexion angestoßen werden. Hier kommt es auch darauf an, aufzuzeigen, dass es bei Fragen rund um Gender nicht darum geht, westliche Werte zum Maßstab zu erklären, sondern einen Raum zu schaffen, in dem verschiedene Vorstellung von Geschlecht, Familie und Sexualität gelebt und präsentiert werden können. Genderreflektierendes Arbeiten umfasst dabei nicht nur verschiedene Formate, wie etwa eine geschlechtsspezifische Mädchen- und Jungenarbeit und Cross-Work-Ansätze, sondern bezieht sich zudem auf die Teamzusammensetzung und die Entwicklung verschiedener Ansätze und Methoden.
Zweifel, Widersprüche und Enttäuschungen ernst nehmen
Ziel des genderreflektierenden Arbeitens ist es, Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich kritisch mit Geschlechterrollen und dem Konzept der Zweigeschlechtlichkeit auseinanderzusetzen sowie Ungleichwertigkeitsvorstellungen und Hierarchien abzubauen. Eine gute Prävention sollte aber ebenso die Zweifel, Widersprüche und Enttäuschungen, die junge Menschen auch in westlichen Gesellschaften in Bezug auf Freiheits- und Gleichheitsrechte erleben, zum Inhalt haben und mit Jugendlichen diskutieren. So lässt sich das Bewusstsein für die Diversität von Diskriminierungen stärken und den Blick auf gruppenübergreifende Gleichberechtigungsbestrebungen lenken.
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